Mit reicher Beute, die er unter Rotbarts Fahnen erworben hatte, kehrte Ritter Hermann, Graf von Schwalenberg, aus Palästina zurück. Es war ein Tag hohen Jubels, als er in dem alten Schloss seiner Väter, tief in den westfälischen Bergen, seinen Einzug hielt, denn viele Jahre war er fern gewesen von Weib und Kind, und manchmal hatten diese in ihrer Einsamkeit an seiner Wiederkehr gezweifelt. War doch so mancher ausgezogen, das heilige Kreuz zu befreien, von dem nie wieder Kunde in seiner Heimat gehört wurde.
Nach einiger Zeit, als der Ritter alle Geschichten von den Schlachten, Eroberungen und Gefahren erzählt, als er alle seine mitgebrachten Schätze immer wieder gezeigt hatte, sprach er zu seiner treuen Frau: „Wir bewohnen ein altes Haus, seine Zinnen und Mauern beginnen schon zu wanken. Nun bin ich aber reich genug, eine neue Burg zu bauen, stattlich und fest, worin es sich angenehmer und sicherer wohnen lässt. Darum habe ich mir dort jene Bergspitze ausersehen, um ein Schloss darauf zu gründen, oder wüsstest Du einen besseren Bauplatz, teure Hildeburg?“ Die Gattin des Ritters meinte zwar anfangs, es sei nicht gut, das alte Ahnenhaus so schnöde zu verlassen, und es sei wohl auch noch nicht gar so baufällig und morsch. Aber als Hermann sie darauf in der verwahrlosten Feste umherführte, als er ihr zeigte, wie hier eine Turmspitze gänzlich zerbröckelt war, wie dort eine Zimmerdecke einzustürzen drohte, wie Raben und Uhus durch gähnende Mauerlücken ungehindert ein- und ausfliegen konnten, gab sie schließlich ihre Zustimmung zu dem Bau; sie dachte dabei an die unermesslichen Schätze und Kostbarkeiten ihres Mannes, und schon wenige Tage später waren die Werkleute damit beschäftigt, die jähe Höhe abzutragen und zu ebnen.
In der folgenden Nacht hatte Ritter Hermann einen gar seltsamen Besuch. Von einem sonderbaren Scharren und Hüsteln geweckt, erblickte er vor seinem Bett eine ganze Schar winziger alter Männchen, die fast wie Bergleute gekleidet waren. Jeder von ihnen trug eine kleine goldene Ampel, wodurch das Schlafgemach des Ritters ganz erhellt wurde. Der Ansehnlichste unter den Kleinen trat etwas vor und begann, unter wunderlichen Kratzfüßen, seine Anrede: „Gestrenger Herr Ritter, wir haben erfahren, dass Ihr gewillt seid, auf jenem Berg ein Schloss zu bauen. Wir wollten Euch aber inständig bitten, den Bau zu unterlassen.“ Über dieses Ansinnen lachte der Ritter laut auf. „Wer dürfte es doch wagen“, rief er, „mich an meinem Bau auf meinem eigenen Grund und Boden zu hindern. Der Berg gehört völlig zu meinen Besitzungen. Wer seid ihr denn, ihr kleines verwegenes Volk?“ „Wir sind die Herren der Berge“, erwiderte der kleine Sprecher sehr ernsthaft. „Und in dem Berg, den Ihr bebauen wollt, wohnen unserer viele. In warmen, mondhellen Nächten schlüpfen wir aus den Tiefen heraus und halten oben ein munteres Tänzchen. Wenn dort nun ein Schloss stände, so wäre uns das, wie Ihr doch einsehen solltet, sehr hinderlich. Und nun gar unsre schmucken Mädchen, wenn sie einmal Lust bekämen, sich in dem Brunnen, der auf dem Berg quillt, zu baden, und es triebe sich dann vielleicht gerade ein Tross roher Knappen dort umher. – Baut lieber auf einem anderen Berg, Herr Ritter. Wir Berggeister und Zwerge wollen Euch gern behilflich sein.“ Aber Ritter Hermann war nicht von der Art, sich von einem vorgenommenen Werk, zumal auf solche Weise, abbringen zu lassen. „Setzt meine Geduld nicht länger auf die Probe“, rief er im höchsten Zorn. „Packt euch sogleich fort und sagt denen, die euch hergesandt haben, dass ich bauen werde, wo immer es mir beliebt, und dass weder Zwerge noch Geister mich daran hindern werden!“ Die Zwerge entfernten sich trippelnd und seufzend, und es sah beinahe so aus, als wenn der eine oder der andere von ihnen sich eine Träne aus den Augen wischte. –
In den drei folgenden Nächten kamen und gingen die Zwerge ebenso, aber durch ihre Bitten wurde Ritter Hermann nur noch hartnäckiger. Sie kamen daher nicht wieder, und der Bau begann ungehindert.
Manche alte Eiche, die Jahrhunderte hindurch ihr Haupt stolz emporgehoben hatte, musste sinken, mancher Steinkoloss wurde dem Schoß der Erde, wo er lange geruht hatte, entrissen. Alles wurde mit unsäglicher Anstrengung den Berg hinaufgeschleppt, und mehr als ein Ross stürzte, zu Tode ermattet, unter der Geißel des Treibers an dem steilen Hang nieder. Täglich war der Ritter selbst oben bei den Arbeitern und ordnete an und befahl und ließ sich nicht verdrießen, das Kleinste wie das Größte sorgsam im Auge zu haben. So wuchsen denn bald die ersten Mauern trotzig empor, und gar nicht lange währte es, bis man Größe und Gestalt der neuen Burg erkennen konnte. Der Brunnen der Zwerge sprudelte mitten im Schlosshof, so hatte es der Ritter ausdrücklich gewollt. Immer höher hoben sich die Mauern; es bildeten sich allmählich die Zinnen und Warten, Erker und Balkone. Endlich, nachdem drei Mal die Blätter in den Stürmen des Herbstes gefallen waren, stand der Bau herrlich vollendet da. Zehn Türme ragten, mit Stahl gedeckt, ringsum empor. Die mittelste höchste Zinne war ganz vergoldet, alle Türen der Burg waren aus Kupfer, und über dem Eingang in den Rittersaal prangte Hermanns Wappen, von gediegenem Silber gearbeitet.
Der nächste erste Mai war zur feierlichen Einweihung dieses Prachtgebäudes bestimmt, und Einladungen waren an alle Ritter und Herren der westfälischen Lande ergangen. Viele Wochen vorher schon sah man sie auf hohen Rossen der Hermannsburg zureiten, denn keiner der Geladenen wollte bei dem Fest fehlen. Über hundert Edelleute kamen zusammen, den Tag des ersten Mai zu begehen. Als nun alle versammelt waren, begann das Fest mit einem großen Turnier. Zu Ross und zu Fuß, mit Schwert und Lanze, einzeln und in großen Massen ward in dem geräumigen Burghof gekämpft, und manch köstlichen Preis trug die Tapferkeit der Ritter davon. Nach beendigtem Kampfspiel zogen sie in die Hallen des Schlosses ein, wo ein gar stattliches Mahl gehalten wurde. Die Tafeln waren mit Purpurdecken belegt, man speiste von silbernen Schüsseln und trank welschen und griechischen Wein aus goldenen Pokalen. Während des Mahles priesen Spielleute in lieblichen Liedern die Taten von Hermanns Ahnen und hörten nicht auf, die edlen Zecher zu ergötzen. Bis spät abends erklangen vom Tanzsaal her lustige Weisen und lockten die Ritter und Frauen zu munteren Reigen.
Stunde um Stunde dauerte die Lust, bis endlich die Mitternacht stumm und schwarz herniederkam. Da kam plötzlich ein gewaltiger Stoß aus der Tiefe des Berges herauf, das ganze Gebäude erzitterte – die trunkenen Ritter fuhren entsetzt zusammen. Es folgte noch ein Stoß und wieder einer, dass die Mauern barsten und die Türme einstürzten! Da und dort glommen tausend kleine Flammen wie Irrlichter an den Säulen und Zinnen hinauf und leckten an den Balken und Dächern, wurden größer und vereinten sich; bald war die Burg eine einzige, zu den Wolken aufschlagende Lohe. Unzählige kleine Gestalten umtanzten hohnlachend die prasselnde Glut. Ritter Hermann aber wurde mit all seinen Gästen unter dem einstürzenden Schloss begraben. Das war die Rache der Zwerge.
Viele Jahrhunderte sind seitdem vergangen, aber noch stehen auf einer steilen Bergkuppe an den Ufern der Emmer die Ruinen der Hermannsburg, und der Brunnen der Zwerge quillt in dem wüsten Gemäuer, silberhell wie ehemals.
Zwischen Schieder-Schwalenberg-Glashütte und Lügde erhebt sich die Herlingsburg (334 m), eine Wallanlage aus vorchristlicher Zeit und alte sächsische Fliehburg, die der Sage nach Wohnstätte von Hermann dem Cherusker sowie von Ritter Hermann aus dem Schwalenberger Geschlecht gewesen sein soll.
Aus: "Auf den Spuren der Brüder Grimm" von Eberhard Michael Iba, erschienen bei CW Niemeyer.
Quelle: Karl Lyncker, Josef Seiler, Jüngere Mythe.